Kita-Orientierungshilfe:
Anforderungen an eine Einrichtungskonzeption gemäß §§ 45 ff

Am 09.02.2024 hat die Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter eine Orientierungshilfe zu der Einrichtungskonzeption gemäß §§ 45 ff SGB VIII veröffentlicht.

Darin sieht die Bundesarbeitsgemeinschaft das Gewaltschutzkonzept nach § 45 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 SGB VIII als ein Teil der Einrichtungskonzeption (S. 24 f.):

„Der Gesetzgeber benennt damit die wesentlichen Anforderungen an ein Gewaltschutzkonzept bzw. die diesbezüglichen Prüfkriterien:

  • es ist Bestandteil der Einrichtungskonzeption;
  • es bezieht sich auf eine konkrete Kindertageseinrichtung mit ihrem spezifischen Angebot;
  • es ist an den Rahmenbedingungen und am Profil der Einrichtung auszurichten;
  • es muss abgestimmte Standards und Maßnahmen zum Gewaltschutz enthalten; und
  • es muss entwickelt, angewendet sowie regelmäßig und anlassbezogen evaluiert und hinsichtlich seiner Wirksamkeit überprüft werden.²“

Die Träger sind – zur Sicherung der Rechte und des Wohls von Kindern – dazu verpflichtet, das Gewaltschutzkonzept zu gewährleisten. Hierzu zählen Verfahrensabläufe bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung nach § 8a innerhalb und außerhalb der Kita, Besonderheiten bei Verdacht auf sexuellen Missbrauch und Verfahrensabläufe bei Meldung von Ereignissen nach der Meldepflicht gemäß § 47 (S. 47 ff.).

Diese Verfahrensabläufe werden häufig von Trägern bereitgestellt. Das ist einerseits sinnvoll, weil der Träger auf diese Weise die abgestimmten Standards und Maßnahmen überprüfen und sicherstellen kann, andererseits wird die Einrichtung beziehungsweise das Team und die Leitung entlastet. Die Abläufe werden dann oft gewissenhaft abgeheftet und für Notfälle im Schrank verwahrt.

Allerdings sind diese Verfahrensabläufe meist so hochschwellig und abstrakt, dass die Pädagog*innen trotzdem häufig nicht wissen: Was tun, wenn…? Nicht ohne Grund sollte jede einzelne Einrichtung – also jedes Team – für sich ein Konzept erstellen, das stimmig, klar, transparent und passend ist.

Ich habe noch nie ein Team erlebt, dass den Unterschied zwischen Kindeswohlbeeinträchtigung und Kindeswohlgefährdung kannte und die Begriffe durchweg korrekt verwendete. Viele Teams haben eine Verhaltensampel im Sinne eines Verhaltenskodex erarbeitet. Selten sprechen Teams darüber, was sie konkret tun, wenn grünes, gelbes oder rotes Verhalten auftritt.

Dabei ist das Ansprechen und Intervenieren bei grenzverletzenden Verhaltensweisen nicht nur für die Kinder wichtig, sondern auch für die Pädagog*innen selbst. „Die Befürchtung, Beobachtung und Ausübung eines verletzenden Verhaltens ist mit starken und vielfältigen Gefühlen verbunden.“ (Boll & Remsperger-Kehm, 2021b, S. 85, 2021a). Mitleid kann dann zu emotionalem Stress und sogar zu emotionaler Kälte führen (Gutknecht, 2015, 2020; Singer & Bolz, 2013). Wird grenzverletzendes Verhalten toleriert, kann eine Kultur der Grenzverletzungen entstehen, in der dieses Verhalten akzeptiert und eventuell sogar ritualisiert wird (Enders et al., 2010).

Ein Grund für grenzverletzendes Verhalten kann – neben der Haltung der Pädagog*innen sowie einem Mangel an Fach- und Handlungswissen –  Überforderung sein. Eigene Grenzen wahrzunehmen und verantwortungsvoll mit eigenen Gefühlen und Überlastungssituationen umzugehen hat gleich mehrere positive Effekte:

  • Der Zusammenhalt und das Vertrauen im Team wird gestärkt, indem Sie sich besser gegenseitig verstehen und unterstützen können
  • Eigene Grenzen frühzeitig zu erkennen und nicht zu überschreiten sorgt im Sinne der Achtsamkeit für Selbstschutz (Bartlett et al., 2019; Lomas et al., 2019)
  • Sie können im Wahrnehmen und Benennen von Gefühlen und einem verantwortungsvollen Handeln damit Vorbild für die Emotionsregulation der Kinder sein (Haug-Schnabel & Bensel, 2017, S. 52 ff.)

Als Beispiele für meldepflichtige Ereignisse nennt die Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter (Bundesarbeitsgemeinschaft Landesjugendämter, 2024):

Beispiele der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter Häufigkeit und wissenschaftliche Erkenntnisse Was tun Sie in der Situation und danach?
– Zwangsmaßnahmen beim Füttern bzw. Essen
Laut der BiKA-Studie entscheiden die Kinder in 23,8 der beobachteten Situationen vor laufender Kamera nicht selbst, ob sie etwas kosten (Hildebrandt et al., 2021a)
Sie sehen, wie die Kollegin einem zweijährigen Kind so lange den Löffel gegen die Lippen drückt, bis es den Mund aufmachen.
– Zwang zum Schlafen
„Schlaf kann nicht erzwungen werden. Kinder, die sich weigern zu schlafen, müssen nicht schlafen. Ihnen kann eine Ruhephase für eine bestimmte Zeit angeboten werden, die räumlich von den schlafenden Kindern getrennt sein sollte.“ (Frank, 2014)
Sie sehen, wie ein Kind leise anfängt zu weinen, weil es liegen bleiben soll.
– Isolieren von Kindern
– Androhung bzw. Umsetzung von unangemessenen Straf- oder Erziehungsmaßnahmen
– Bloßstellen von Kindern in der Gruppe
– Herabwürdigendes Erziehungsverhalten
– Grenzverletzendes bzw. grenzüberschreitendes Verhalten gegenüber den zu betreuenden Kindern
„Durchschnittlich ist vermutlich ein Viertel der Interaktionen von Lehr- und Fachkräften mit Kindern und Jugendlichen in Kitas und Schulen als verletzend zu charakterisieren.“ (Prengel, 2020, S. 5)
Sie kommen neu in eine Einrichtung und beobachten immer wieder ähnliche Situationen, in denen Grenzen der Kinder verletzt werden. Ihre neuen Kolleginnen erklären Ihnen: „Das machen wir hier so.“
– Fixieren von Kindern
In allen drei Schlüsselsituationen Vorlesen, Freispiel und Essen, werden Kinder in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt, ohne dass Gefahr im Verzug ist, am häufigsten beim Essen (Hildebrandt et al., 2021b)
Ein Kind ist zwischen Stuhl und Tisch eingeklemmt, möchte gerne aufstehen, aber schafft es nicht alleine.

Was würden Sie tun?

Bartlett, L., Martin, A., Neil, A. L., Memish, K., Otahal, P., Kilpatrick, M., & Sanderson, K. (2019). A systematic review and meta-analysis of workplace mindfulness training randomized controlled trials. Journal of Occupational Health Psychology, 24(1), 108–126. https://doi.org/10.1037/ocp0000146

Boll, A., & Remsperger-Kehm, R. (2021a). Schaut nicht weg! Zum Umgang mit verletzendem Verhalten in der Kita. Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft. https://www.nifbe.de/images/nifbe/Aktuelles_Global/2021/20210928-verletzendes-verhalten-web-1.pdf

Boll, A., & Remsperger-Kehm, R. (2021b). Verletzendes Verhalten in Kitas: Eine Explorationsstudie zu Formen, Umgangsweisen, Ursachen und Handlungserfordernissen aus der Perspektive der Fachkräfte. Verlag Barbara Budrich. https://doi.org/10.3224/84742556

Bundesarbeitsgemeinschaft Landesjugendämter. (2024). Orientierungshilfe Anforderungen an eine Einrichtungskonzeption für Kindertageseinrichtungen gemäß §§ 45 ff. SGB VIII (135. Arbeitstagung). Bundesarbeitsgemeinschaft Landesjugendämter.

Enders, Kossatz, Kelke, & Eberhardt. (2010). Zur Differenzierung zwischen Grenzverletzungen, Übergriffen und strafrechtlich relevanten Formen der Gewalt im pädagogischen Alltag. Zartbitter e.V. http://www.zartbitter.de/gegen_sexuellen_missbrauch/Fachinformationen/6005_missbrauch_in_der_schule.php

Frank, K. (2014). Empfehlungen der Arbeitsgruppe Pädiatrie der Deutschen Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin zum Mittagsschlaf im Kindergarten. https://www.dgsm.de/fileadmin/dgsm/Arbeitsgruppen/paediatrie/Mittagsschlaf_Empfehlungspapier.pdf

Gutknecht, D. (2015). Bildung in der Kinderkrippe: Wege zur professionellen Responsivität (2., überarbeitete Auflage). Verlag W. Kohlhammer.

Gutknecht, D. (2020). Beobachtung und Responsivität: Neue Erkenntnisse aus der Säuglings- und Kleinkindforschung zur Gestaltung der Fachkraft-Kind-Beziehung [Verschriftlichte Form des Vortrags gehalten auf dem Internationalen Pikler Symposium, Budapest, Ungarn, 4.-7.April 2018]. https://www.eh-freiburg.de/prof-gutknecht_praesentationen

Haug-Schnabel, G., & Bensel, J. (2017). Grundlagen der Entwicklungspsychologie: Die ersten 10 Lebensjahre (12. vollständig überarbeitete und deutlich erweiterte Auflage). Herder.

Hildebrandt, F., Walter-Laager, C., Flöter, M., & Pergande, B. (2021a). BiKA – Beteiligung von Kindern im Kitaalltag. Abschlussbericht zur Studie. (S. 76). Fachhochschule Potsdam und PädQuis gGmbH. https://www.fruehe-chancen.de/fileadmin/PDF/Fruehe_Chancen/Bika_Studie_FH_Potsdam/Bika_Abschlussbericht-web.pdf

Hildebrandt, F., Walter-Laager, C., Flöter, M., & Pergande, B. (2021b). BiKA – Beteiligung von Kindern im Kitaalltag. Kurzbericht zur Studie. (S. 76). Fachhochschule Potsdam und PädQuis gGmbH. https://www.fruehe-chancen.de/fileadmin/PDF/Fruehe_Chancen/Bika_Studie_FH_Potsdam/Bika_Kurzbericht_web.pdf

Lomas, T., Medina, J. C., Ivtzan, I., Rupprecht, S., & Eiroa-Orosa, F. J. (2019). A Systematic Review and Meta-analysis of the Impact of Mindfulness-Based Interventions on the Well-Being of Healthcare Professionals. Mindfulness, 10(7), 1193–1216. https://doi.org/10.1007/s12671-018-1062-5

Prengel, A. (2020). Destruktive Beziehungen in pädagogischen Arbeitsfeldern – Empirische und theoretische Zugänge. Pädagogische Beziehungen. https://paedagogische-beziehungen.eu/wp-content/uploads/2020/05/Prengel_DestruktiveBeziehungen.pdf

Singer, T., & Bolz, M. (Hrsg.). (2013). Compassion: Bridging practice and science. Max Planck Society.